Einläuten
Das Lied von der Glocke
VIVOS VOCO
MORTUOS PLANGO
FULGURA FRANGO
Fest gemauert in der Erden Steht die Form aus Lehm gebrannt. Heute muss die Glocke werden! Frisch, Gesellen, seid zur Hand! Von der Stirne heiß Rinnen muss der Schweiß, Soll das Werk den Meister loben; Doch der Segen kommt von oben.
Zum Werke, das wir ernst bereiten,
Geziemt sich wohl ein ernstes Wort;
Wenn gute Reden sie begleiten,
Dann fliegt die Arbeit munter fort.
So lasst uns jetzt mit Fleiß betrachten,
Was durch die schwache Kraft entspringt.
Den schlechten Mann muss man verachten,
Der nie bedacht, was er vollbringt.
Das ist’s ja, was den Menschen zieret,
Und dazu ward ihm der Verstand,
Dass er im innern Herzen spüret,
Was er erschafft mit seiner Hand.
…
Was in des Dammes tiefer Grube
Die Hand mit Feuers Hilfe baut,
Hoch auf des Turmes Glockenstube,
Da wird es von uns zeugen laut.
Noch dauern wird’s in späten Tagen
Und rühren vieler Menschen Ohr,
Und wird mit den betrübten klangen
Und stimmen zu der Andacht Chor. …
Und dies sei fortan ihr Beruf,
Wozu der Meister sie erschuf:
Hoch überm niedern Erdenleben
Soll sie im blauen Himmelszelt,
Die Nachbarin des Donners, schweben
Und grenzen an die Sternenwelt.
Soll eine Stimme sein von oben,
Wie der Gestirne helle Schar,
Die ihren Schöpfer wandelnd loben
Und führen das bekränzte Jahr.
Nur ewigen und ernsten Dingen
Sei ihr metallner Mund geweiht,
Und stündlich mit den schnellen Schwingen
Berühr’ im Fluge sie die Zeit.
Dem Schicksal leihe sie die Zunge;
Selbst herzlos, ohne Mitgefühl,
Begleite sie mit ihrem Schwunge
Des Lebens wechselvolles Spiel.
Und wie der Klang im Ohr vergehet,
Der mächtig tönend ihr entschallt,
So lehre sie, dass nichts bestehet,
Dass alles Irdische verhallt.
Jetzo mit der Kraft des Stranges
Wiegt die Glock’ mir aus der Gruft,
Dass sie in das Reich des Klanges
Steige, in die Himmelsluft!
Ziehet, ziehet, hebt!
Sie bewegt sich, schwebt.
Freude dieser Stadt bedeute,
Friede sei ihr erst Geläute.
Friedrich Schiller, im Jahre 1800
Noch dauern wird's in späten Tagen
Als Schiller aus diesen Versen seine Glocke formte, als er mit einer Legierung aus Philosophie, Lebensweisheit und dahin fließender Lyrik seine Glocke goss, hatte dieser eherne Klangkörper 5000 Jahre Geschichte geschrieben und längst seinen Platz in unseren Glockentürmen, vor allem im Leben und in den Herzen der Menschen gefunden. Das nach „wahrer Harmonie" strebende und von Mystik umwobene Musikinstrument fand Eingang in alle Weltkulturen. Und überall dort begleitet sie „Selbst herzlos, ohne Mitgefühl, mit ihrem Schwunge des Lebens wechselvolles Spiel.“
Die Reise der Glocke begann wohl in China im dritten Jahrtausend v. Chr. in den unterschiedlichsten Kulturräumen mit ihren Dynastien, weiter über die Kulturen am Indus, Mesopotamien zu den fruchtbaren Flusstälern an Euphrat und Tigris. Die Straße der Glocke führt über das Hochland von Armenien und an die Ufer des Nil. Über die Länder der Bibel führt ihr Weg nach Ägypten zu den koptischen Mönchsgemeinschaften und über Nordafrika nach "Glocken-Europa", wie der Wiener Historiker Friedrich Heer die Gemeinschaft der abendländischen Völker nannte.
Die Kulturgeschichte der Menschheit ist ohne die Sehnsucht nach Höherem, nach Gott, nicht vorstellbar. Bei der Suche nach dem Sinn des Lebens, bei der Suche nach Göttlichem, ersann der menschliche Geist Symbole zum Verstehen, denen er, wie der Glocke, eine Vielfalt von sakralen und weltlichen Aufgaben übertrug.
Mit und in jedem neuen Kulturraum wandelten sich die Gesellschaft, ihre Religion und ihr Glaube. In diesen Wandel waren Symbolik und Bedeutung der Glocke untrennbar miteinander verwoben. Sie war und ist über fünf Jahrtausende verlässliche Begleiterin in diesem Wandel. Entlang der weltumspannenden Glockenstraße sollte sie in jeder dieser Kulturlandschaften die geistige Verbindung zu Höherem, zumUnbegreiflichen, zu Gott herstellen.
Die Glocke läutete aber nicht nur himmelwärts. Machthaber bemächtigten sich über drei Jahrtausende ohne Ausnahme der Glocke um sie für ihre Dienste zu gebrauchen oder zu missbrauchen. Sie war Symbol der Macht ebenso wie der Ohnmacht. Sie begleitete uns Menschen bei unseren ersten Gehversuchen und auf dem letzten Weg. Sie lud die Menschen zum Fest und feierte mit ihnen.
Zum Läuten für den Frieden gegossen und geweiht, ließ sie zur Kanone umgegossen , ihre todbringende Stimme auf den blutüberstömten Schlachtfeldern erklingen, vor allem aber bei uns in Europa. Und immer, wenn die Glocke schweigen musste, waren Menschenrechte, Friede, Freiheit und die Würde unzähliger Menschen bedroht, bis in unsere Tage. Krieg und Frieden, Tod und neues Leben, Bleibendes und Vergängliches, Irdisches und Ewiges schwingt in der Vielfalt ihrer Klangfarben mit.
Lassen Sie sich nun mitnehmen auf eine Reise durch die Welt der Glocken, um gemeinsam entlang den weltweiten Glockenstraßen ihrer spannenden, unendlichen Geschichte nachzuspüren.
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Fußnoten zu den Texten, Benutzte Literatur und Bildnachweis in:
Kurt Kramer, Klänge der Unendlichkeit, Kevelaer 2015.
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