Klänge zwischen Zeit und Ewigkeit

 


Reise auf die Glockentürme Europas

Der Wiener Historiker Friedrich Heer gab der Einheit der abendländischer Völker den Namen „Glockeneuropa“. Er beschrieb damit jenen Teil Europas, in dem die Glocke mit ihrem Rhythmus die Zeit zum Gebet, zur Arbeit und zur Muße vorgab. Die Glocke ordnete das Leben hinter den Klostermauern und in Stadt und Land. Die Glocke steht für die Anfänge des christlichen Abendlandes.

Nach Glockeneuropa kamen die Glocken vom Land der Bibel. Christlichen Schriftsteller wie Justinus und Origenes haben die Deutung der 12 Glöckchen aufgenommen, den Faden ihrer Kulturgeschichte weitergesponnen und ganz neue Gedanken hinzugefügt.

Vornehmste Aufgabe der Glocke war fortan, Himmel und Erde miteinander verbinden. Wie schnell die Türme die Silhouetten von Dörfern und Städten prägten, die Glocke im Alltag der Christen Aufnahme fand und das Leben mit ihren Klängen und ihrem Rhythmus begleitete, war atemberaubend.  Atemberaubend auch, wie schnell Dohlen,  Turmfalken, Schleiereulen, Fledermäuse, Wanderfalken u.v.m. in unseren Türmen eine neue Heimat fanden und bis heute finden.   

Die Kathedrale von Saint Sernin in Parvis Toulouse mit ihrem imposanten Glockenturm. Sie wurde von Papst Urban 1096 eingeweiht

Natur und Kultur im Einklang

Der hl. Antonius in „Die Schrift“ versunken. Luxemburger Stundenbuch, Bl. 142r, Anf. 15. Jh., Russische Nationalbibliothek, Sankt Petersburg

Pachomius, mit dem hl. Antonius Urvater des Mönchtums, schrieb um das Jahr 300 eine bis heute unverändert aktuelle zur Bedeutung des Glockenläutens:

Ohne das klingende Zeichen, das den Rhythmus von Gebet, Arbeit und Muße vorgibt, verkommen die Menschen zu unmenschlichen, unkultivierten Wesen.

Im oberägyptischen Esna und in der Kathedrale im nubischen Farâs, entdecken wir zwei mit Glöckchen behangene Kreuze.Das Kreuz von Farâs gleicht einem Lebensbaum mit Jesus in der Mitte, dessen Botschaft die vier Evangelisten verkünden. Die Glöckchen-Girlanden um das Kreuz geflochten, sollten die Heilsbotschaft des Kreuzes zum Klingen bringen. 

Vom Süden Italiens machen wir eine weite Reise in den äußersten Nord-Westen Europas auf die Klosterinsel IONA. Dort lebte ein Mönch, Columban genannt. Um das Jahr 591 entsandte ihn sein Abt mit zwölf Gefährten, darunter auch einen Priester namens Gallus, auf das Festland. Im Gepäck hatten sie, wie alle irischen Mönche, Buch, Wanderstab und Glocke. 

Columban, Gallus und Weggefährten hatten entlang ihrer Reiseroute zahlreiche Klöster in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Italien gegründet. Diese Klöster wurden zu Hochburgen von Bildung und Kultur in Europa. 

Die geistige und Kulturelle Ausstrahlung die von ihnen ausging, vor allem vom Kloster Luxeuil, prägte das Christliche Abendland, prägte Europa, von Friedrich Heer auch Glocken-Europa genannt.

Robert Schuman, einer der Gründerväter der Europäischen Union, würdigte im Jahre 1950 in einer Festansprache den hl. Columban als den Kreator und Inspirator des modernen Europa:

Der heilige Columban, dieser glanzvolle Ire, der sein Land ins freiwillige Exil verließ, schuf die Grundlagen für eine spirituelle Einheit zwischen den bedeutenden europäischen Ländern seiner Zeit. Er ist der Schutzheilige all derer, die ein Vereintes Europa aufbauen wollen.

So hat Columban, der so  hochgepriesene Wegbereiter Europas, mit seiner vermutlich gerade mal 30 cm großen, mit Bronze überzogenen Eisenblechglocke, die Anfänge Europas eingeläutet. Diesen Schutzheiligen und seine grenzenlose Begeisterung könnte Europa dringend gebrauchen, gerade in unseren Tagen und das mehr denn je.

Das Kreuz von Faras, Tempera auf Putz, um 1000. Die Glöckchen bringen die Botschaft des Kreuzes zum Klingen. Wandmalerei in der berühmten Kathedrale im nubischen Faras


Der hl. Benedikt prägte das abendländische Mönchtum mit seiner Regel bis in unsere Zeit. Er hat das „signum dare“ das Zeichen geben aus der Regel des hl. Pachomius aufgenommen und den Mönchen und uns in sein „Buch geschrieben“. Als er in seiner Höhle im Tal von Subiaco, östlich von Rom lebte, war es bereits heilige Gewohnheit gottseliger Mönche, mit einer wohl klingenden Glocke, dem „signum“ zum Gebet zu rufen, wie Diakonus Ferrandus im Jahre 535 in einem Brief aus Chartago schreibt.                Weiterlesen in Spalte rechts oben. >

Der hl. Kolumban auf dem Weg von IONA nach Bobbio mit seiner Glocke am Wanderstab, Kirche San Pietro di Vara Carrodano, Brugnato, um 1350.










Eine dieser, aus Eisenblech geschmiedeten Glocken, die Bonifatius-Glocke, vor dem Jahre 800 auf  IONA geschmiedet, läutet noch heute im Ramsach-Kirchlein in Murnau am Staffelsee. Gemeinsam mit der ältesten läutenden Bronze-Glocke Europas aus dem Museum in Esztergom oder mit der Bürgli-Glocke, Obergailingen, könnte sie ein Duo bilden, das die in dieser Zeit von unseren Glockentürmen zu hörenden Klänge sehr wirklichkeitsnah wiedergibt.

Zur Mitte des 11. Jh. werden die Glocken größer, gewichtiger und hörbar klangvoller. Herausragendes Beispiel ist die vor wenigen Jahrzehnten restaurierte Lullus-Glocke in Bad Hersfeld. Nach über 100-jährigem Schweigen feierte sie eine ergreifende, feierliche Wiedergeburt. 

Um 1050, vermutlich auf der Reichenau gegossen, wurde die 2021 wiederentdeckte Bürgli-Glocke aus Gailingen am Bodensee. Ihrem Rippenprofil und aussehen nach, könnte sie die kleine Schwester der Canino-Glocke (Vatikanisches Museum) sein.

               < Weiterlesen in linker Spalte unten nach dem Bild

Der hl. Benedikt in der Höhle von Subiaco, der Klang der Glocke schafft Verbindung zu seinem Kloster, in: Gregory, Dialogues ff. 1-98v, Italien Mitte 14. Jh.

Beim Läuten der Mittagsglocke gedachten die Gläubigen der Menschwerdung Jesu. Dieses Mittagsläuten - das auch die Bauern auf dem Felde zum Mittagessen rief - hatte die auffälligsten Züge eines Zeit-Läutens.

Klangvolles Beispiel dafür ist die Hosanna des Freiburger Münsters, auch Spätzles-Glocke genannt. Die wohl älteste und schönste Angelus-Glocke Europas, im Jahre 1258 auf dem Münsterplatz gegossen, beheimatet im "schönsten Turm der Christenheit", erinnert an das Gebet zum Angelusläuten. Gleichzeitig signalisiert sie dem Bauern auf dem Feld, dass zuhause die Spätzle und weitere Leckereien zum Mittagessen bereitet sind.

Für das Christentum ist sie darüber hinaus ein klangvolles Zeugnis der gerade aufkeimenden Marienverehrung zur Mitte des 13. Jh., wie aus ihrer in Bronze eingegossene Botschaft zu lesen:

O König der Herrlichkeit komme mit Frieden - Wenn mein Ruf erschallt, eile zu Hilfe Maria -.

Den bedeutendsten Beitrag zur Verbreitung des Gebetsläutens kommt aus der Feder von Papst Sabinian, Nachfolger von Gregor dem Großen, aus dem Jahre 604. Er nutzte seine kurze Amtszeit, die Gebetszeiten der Mönche, auf die Christenheit außerhalb der Klostermauern zu übertragen.

Das Abendläuten sollte an das Leiden und Sterben Jesu erinnern. Im Abendgebet konnte der vergangene Tag betrachtet, aufgearbeitet und gleichzeitig zurückgelassen werden. 

Dem morgendlichen Läuten kam die wohl größte Bedeutung zu. Die Gläubigen gedachten der Auferstehung Jesu in der Frühe des Ostermorgens. Die Glocke war Weckruf, sollte die Menschen aber auch  ermuntern, aus dem Erwachen eine ganz persönliche Auferstehung werden zu lassen. Ihre Klänge sollten den Menschen Mut zurufen bei ihrer Suche nach dem besten und zielführenden Weg durch den zuweilen gefahrenreichen, mühevollen Tag. 

Hosanna im Freiburger Münster, 1258 gegossen auf dem Münsterplatz, Foto: Landesdenkmalamt Freiburg


Mit dieser Vielfalt der Sinngebung für das tägliche Leben und Gebet fand die Glocke ihren Platz im Alltag der Menschen.

Die Königin aller Glocken, die Gloriosa im Dom zu Erfurt, gegossen 1497 auf dem Domberg in Erfurt, Foto: Dombauamt Erfurt


Der Domberg in Erfurt mit Dom und St. Severi, Joseph Jacques Ramée, 1813, Angermuseum, Erfurt









Mit den verhallenden Klängen der Hosanna, erklimmen wir die Höhen mittelalterlicher Glockengießerkunst in den beiden Glockentürmen zu Erfurt. Die Gloriosa, gegossen von Gert van Wou im Jahre 1497, ist die wohl schönste Glocke Europas.

Mit ihren bewegenden Klängen hat sie Martin Luther bei seiner Priesterweihe im Erfurter Dom und auch die Deutsche Einheit begleitet. Mit der Gloriosa war ein Höhepunkt der Glockengießkunst in Europa erreicht.

Den Gipfel ihrer todbringenden "Klänge" haben in dieser Zeit auch die aus eingeschmolzenen Glocken gegossenen Kanonen erreicht. Sie werden in den nächsten Jahrhunderten die Geschichte Europas und der Glocken nachhaltig beeinflussen und prägen. 

   "Die Kanone sprach zur Glocke"